Kastration ja oder nein – «Es geht ums Wohlbefinden»
Die Kastration beim Hund ist mitunter ein emotionales Thema. Bevor die Tierärztin Andrea Meyer Fragen rund um Eingriff und Natürlichkeit beantwortet, soll an dieser Stelle bereits das Wichtigste gesagt sein: Jede Halterin bzw. jeder Halter ist dazu angehalten, die eigenen Lebensumstände möglichst objektiv zu reflektieren, um für sich und sein Tier eine passende Lösung zu finden. Ein Abwägen aller Risikofaktoren und eine klare Haltung sind dabei wichtig.
Andrea, welche Fragen sollte sich ein Mensch stellen, der über eine Kastration bei seinem Hund nachdenkt?
Eine wichtige Frage ist zweifelslos, ob man in der Zukunft hündischen Nachwuchs möchte. Wird diese Frage mit einem klaren «Nein» beantwortet, ist dies bereits richtungsweisend. Nicht jeder Hund muss in seinem Leben Welpen zeugen. Die zweite Frage lautet: Wie sieht die Wohnsituation meines Hundes aus? Ist die Hundedichte hoch, kann der sexuelle Trieb mehr Stress verursachen. Und die zentralste Frage: Wie geht es meinem Hund damit? Das Wohlbefinden des Tieres sollte beim Thema Kastration immer im Mittelpunkt stehen. Wenn mein Rüde alle paar Wochen an Liebeskummer leidet, hat dies vermutlich einen negativen Einfluss auf seine Lebensqualität. Hier sollten wir menschliche Vorstellungen und Wünsche loslassen und im besten Interesse des Tieres entscheiden.
Manche argumentieren, es handle sich um einen Eingriff in die Natürlichkeit des Hundes. Was sagst du dazu?
Im Leben eines modernen Hundes ist vieles nicht mehr «natürlich» – weder seine Umgebung noch Ernährung. Wenn man diesen Gedanken der Ursprünglichkeit weiterspinnen möchte, sind gar Leinen und Halsbänder unnatürlich. Aber sie gehören nunmal bei den meisten Hund-Mensch-Teams dazu, denn die wenigsten von uns leben abgeschieden auf einer Alp in den Bergen.
Auch der oft genannte Vergleich mit dem Wolf hinkt den Fakten hinterher: Weibliche Wölfe werden seltener läufig als unsere Hündinnen, und schon gar nicht im Herbst. Welpen im Winter wären kaum überlebensfähig. Männliche Wölfe kennen – anders als unsere Rüden – eine sogenannte sexuelle Ruhe. Sie produzieren nur Spermien, wenn die Weibchen im Rudel läufig werden. Das unterscheidet den Wolf stark von unserem Haushund, der dauernd im Trieb bzw. läufig ist. Es gibt noch weitere Verhaltensunterschiede, aber insgesamt lässt sich sagen, dass der Sexualtrieb des Hundes nicht dem des Wolfes gleichkommt.
Wenn ich meinen Hund kastrieren möchte, welcher Zeitpunkt wäre dann ideal?
Wenn es möglich ist, sollte das Tier immer geschlechtsreif werden dürfen. Das Erwachsenwerden ist ein wichtiger Teil der körperlichen und mentalen Entwicklung. Bei Hündinnen bedeutet das, mindestens eine Läufigkeit, noch besser eine zweite abzuwarten. Bei Rüden gibt es zudem die reversible, chemische Kastration (das Stäbli). Damit kann man ausprobieren, wie es dem Hund kastriert geht. Danach kann der Halter entscheiden, ob er das Stäbli lebenslang etwa alle 6-30 Monate geben, das Tier definitiv kastrieren oder wieder intakt werden lassen will. So oder so ist eine klare Linie wichtig, um kein hormonelles Auf-und-ab zu riskieren.
Die Kastration birgt Risiken, keine aber auch.
Welche physischen Risiken spielen beim Thema Kastration eine Rolle?
Eine Kastration birgt sowohl Vor- als auch Nachteile, die mit der Rasse, dem Geschlecht und dem Alter zum Zeitpunkt der Kastration variieren. Man darf als Tierbesitzer oder Halterin aber nicht vergessen, dass keine Kastration ebenfalls Risiken birgt.
- Nachteile einer Kastration:
⚥ Wie bei jeder Operation ist eine Narkose immer mit einem gewissen Restrisiko verbunden. Hinzu kommen mögliche Komplikationen nach dem Eingriff.
⚥ Hunde können nach einer Kastration manchmal inkontinent werden. Bei Hündinnen ist das Risiko 3-21 % höher nach dem Eingriff, wobei ältere und schwerere Tiere öfters betroffen sind.
♂ Eine verfrühte Kastration bei grossen Hunderassen kann das Wachstum der Röhrenknochen negativ beeinflussen (die Rüden werden zu gross). Zudem ist ein aggressiver Verlauf von Prostatatumoren (die generell selten sind) bei kastrierten Rüden fast dreimal wahrscheinlicher als bei intakten.
⚥ Bei manchen Hunderassen kann sich das Fell nach der Kastration verändern: Die Hunde legen an Unterwolle zu und die Farbe wird matter. - Vorteile einer Kastration:
♀ Intakte Hündinnen erkranken viel häufiger an sogenannten Mammatumoren (25% aller intakten Hündinnen), die in 20-50 % der Fälle bösartig sind. Eine Kastration vor der zweiten oder dritten Läufigkeit minimiert dieses Risiko stark. Kastrierte Hündinnen leiden zudem deutlich weniger an Zysten, Tumoren und Entzündungen der Gebärmutter oder im Genitaltrakt – dafür häufiger an Scheidenentzündungen (Vaginitis). Hündinnen, die an wiederkehrender Scheinträchtigkeit leiden, kann mit einer Kastration geholfen werden.
♂ Unkastrierte Rüden leiden häufiger an sexuell motiviertem Stress, der sich in Appetitlosigkeit und Unruhe äussern kann.
⚥ Kastrierte Hündinnen und Rüden leben im Schnitt rund ein Jahr länger als ihre intakten Artgenossen. Die höhere Lebenserwartung könnte mit der ruhigeren Lebensweise und den generell selteneren endokrinen Erkrankungen zusammenhängen.
Dass Hunde nach der Kastration an Gewicht zulegen, ist laut Universität Zürich bis heute nicht eindeutig wissenschaftlich belegt. Ernährung, Bewegung und Rasse spielen bei Gewichtszunahme und Übergewicht wohl eine zentralere Rolle.
Wird mein Hund ruhiger, wenn ich ihn kastriere?
Das Verhalten kann sich ändern, aber eben nur das sexuell motivierte und nicht das erlernte. Hier ist die Frage wichtig, ob ich als Mensch mit dem sexuellen Verhalten meines Tiers klar komme oder ob es unsere Bindung belastet. Eine Kastration kann eine Haltungserleichterung bedeuten, sollte aber nicht der alleinige Grund für einen Eingriff sein. Gerne würde ich an dieser Stelle mit einem Mythos zum Thema Verhalten aufräumen …
Ja, gerne!
Ich höre immer noch oft, man solle einen unsicheren Hund nicht kastrieren, weil er dann kein Selbstbewusstsein aufbauen könne. Das stimmt so nicht. Das Zusetzen oder Wegnehmen von Geschlechtshormonen fördert weder Ängste, noch bekämpft es sie. Ein Beispiel: Eine Hündin, die während der Läufigkeit stark von Rüden belästigt wird, könnte kastriert in Ruhe mehr Selbstvertrauen aufbauen. Auch hier sollte von Fall zu Fall entschieden werden – und das individuelle Wohlbefinden des Tieres bei der Entscheidung im Zentrum stehen.
Danke für das Gespräch, Andrea.
Kastrationsberatung
Bist du dir nach wie vor unsicher, ob oder wann du dein Tier kastrieren sollst, kannst du bei Dr. med. vet. Andrea Meyer jederzeit eine individuelle und fundierte Kastrationsberatung buchen.